Graz
1914–1945
Der Erste Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit sind in Graz von Lebensmittelknappheit und sozialer Not geprägt. Die neu gegründete Republik Österreich und die Demokratie bringen keine politische Stabilisierung. Die geopolitische Neuordnung Europas hat für die Steiermark den über alle Parteigrenzen hinweg beklagten Wegfall der „Untersteiermark“ zur Folge und verstärkt das Gefühl der Krise.
Das Graz der Ersten Republik wird einerseits von Sozialreformen bestimmt, andererseits fungiert es auch als Wiege des Nationalsozialismus. Die Aktivitäten der illegalen Nazis während der „Ständestaat“-Diktatur führen zum von Hitler verliehenen Titel „Stadt der Volkserhebung“.
Zwischen den Begeisterungsstürmen der Grazer/-innen bei Hitlers Rede am 3. April 1938 in der Weitzer Waggonfabrik und der zerbombten Stadt liegen nur sieben Jahre. Die Aufarbeitung der Verbrechen im Nationalsozialismus sowie die Übernahme der Verantwortung, der Ermordeten und Vertriebenen zu gedenken, halten hingegen bis heute an.
Am Rücken tragen die Soldaten einen Tornister, am Gürtel Bajonett, Patronentasche und einen Brotsack. Ein Mann hatte bis zu 60 Kilogramm Gepäck zu tragen.
Die Soldaten befinden sich in Kampf-Adjustierung mit Mantel und Kappe. Der Stahlhelm wurde bei der österreichisch-ungarischen Armee erst 1916 eingeführt.
Die Soldaten wurden zum Abschied mit Blumen geschmückt. Diese stehen für das „Augusterlebnis“ der Kriegseuphorie, die aus heutiger Sicht ebenso propagandistisch wie kurzlebig war. Schon Ende 1914 gab es mehr als 1 Million tote, verletzte, vermisste oder in Kriegsgefangenschaft befindliche österreichisch-ungarische Soldaten.
Mit Begeisterung in den Ersten Weltkrieg?
Freudetaumelnde Menschenmassen beim Auszug der Soldaten im Sommer 1914 dominieren unsere Vorstellung vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis heute. Franz Köck vermittelt in seinem Gemälde dieses Klischee nur bedingt. Auf subtilere Weise stellt er stolze Freude, aber auch das Pathos des Abschieds dar. Während die jungen Soldaten den Blickkontakt mit den Betrachter*innen mit auffordernder Zuversicht suchen, rufen die abgewandten, düsteren Blicke der älteren Männer Mitgefühl hervor.
In der „Stadt der Volkserhebung“
Der Werbegrafiker und Filmemacher Hanns Wagula dokumentierte 1938 den „Anschluss“ in Graz, der „Stadt der Volkserhebung“. Der Film zeigt den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht sowie Formationen der Sturmabteilung (SA), Hitlerjugend (HJ) und des Bunds Deutscher Mädel (BDM) in die Grazer Innenstadt am 13. März 1938. In dem propagandistischen Film wird ein Bogen von den Volksausspeisungen durch die BDM-Jugend bis zum programmatischen „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ gespannt. Wagula wurde dafür von der Reichspropagandaleitung der NSDAP mit dem Wanderpreis für den besten Berichts- und Propagandafilm staatspolitischer Art 1940 ausgezeichnet.
Der Holocaust als mörderischer Endpunkt einer Kultur des Hasses
Das vor allem in Österreich und Deutschland jahrzehntelang aufgebaute antisemitische Potential fand in Hitlers Wahnvorstellung von der „Reinhaltung germanischen Blutes“ durch die „Vernichtung des Weltjudentums“ seine Erfüllung.
Spätestens 1940, mit der systematischen Ermordung behinderter Menschen, kam es zu einem Zivilisationsbruch, bei dem alle Normengefüge des Humanen zerstört wurden. Von Mitte 1941 bis Anfang 1945 wurden in der Shoa (dem Holocaust) bis zu 6 Mio. Jüdinnen und Juden ermordet – rund 3 Mio. in Vernichtungslagern wie Auschwitz, Betzec, Sobibór und Treblinka, etwa 0,7 Mio. in mobilen Gaswagen, ca. 1 Mio. in Ghettos und Konzentrationslagern und an die 1,3 Mio. bei Massenerschießungen vor allem an der Ostfront.
1934 verzeichnete die Israelitische Kultusgemeinde in Graz 1.720 Mitglieder. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurden jüdische Bürger/-innen sukzessive verfolgt. Im Frühjahr 1940 erklärte der nationalsozialistische Bürgermeister Julius Kaspar die Stadt Graz für „judenfrei“.
Zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 ermordete Jüdinnen und Juden |
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Grenze Deutsches Reich 1942 |
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Grenzen 1937 |
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Deutsches Reich |
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Vom Deutschen Reich besetzte Gebiete |
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Ab 11. November 1942 deutsch besetzt |
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Verbündete des Deutschen Reichs |
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Von den Verbündeten besetzte Gebiete |
Projekt Stadt
Der Erste Weltkrieg manifestierte sich in Graz durch hungernde Massen, Militäreinquartierungen und Verwundete. Die stadtbürgerliche politische Mitgestaltung wurde durch die Auflösung des Gemeinderats 1914 unterbrochen und konnte erst nach den (erstmals freien) Wahlen in der Ersten Republik wiederaufgenommen werden.
In den nachfolgenden Jahrzehnten hatte die Stadtgemeinde die Folgen der Niederlage – Flüchtlinge, Heimkehrer, wirtschaftliche Misere und eine prekäre Wohnungs- und Versorgungslage – zu verkraften. Der sozialdemokratische Bürgermeister Vinzenz Muchitsch bemühte sich um sozialen Ausgleich und die noch ungeübte Demokratie, womit das „Rote Graz“ im Kontrast zur konservativen Steiermark stand.
Die „stadtbürgerliche“ Idee geriet in einer Zeit der zunehmenden Radikalisierung und des Abbaus demokratischer Grundrechte an ihre Grenzen. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme kam die zivilisierte Gesellschaft zum Erliegen und mit ihr das Projekt Stadt.
Geschlechterrollen
Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs führten zu einem Aufbrechen traditioneller Rollenverhältnisse. Für Frauen öffneten sich neue öffentliche und berufliche Betätigungsfelder. 1918 erhielten sie das lang erkämpfte aktive und passive Wahlrecht.
Zugleich herrschte eine energische Gegenbewegung, die einen moralischen Verfall auszumachen suchte. Sexuelle Orientierungen außerhalb der heterosexuellen Norm, außereheliche Verbindungen oder Homosexualität wurden abgelehnt. In den Nachkriegsjahren und in der „Ständestaat“-Diktatur wurden Frauen teilweise wieder per Gesetz aus Berufen sowie öffentlichen Ämtern gedrängt.
Die Ideologie des Nationalsozialismus reduzierte den Mann auf eine militante Männlichkeit. Die Rolle der Frau wurde aus „rassischen“ Gesichtspunkten neu definiert: Ihre Aufgabe sollte es sein, den Fortbestand und die „Reinheit“ des „Volkskörpers“ zu sichern. Homosexuelle Menschen wurden von den Nationalsozialist*innen verfolgt und ermordet.
Vielfalt
Die territorialen Neuordnungen Europas nach dem Ersten Weltkrieg hatten auch für die Steiermark weitreichende Folgen. Sie verlor ein Drittel ihres Gebiets an den SHS-Staat (Königreich Jugoslawien). Nur wenige hatten Zuversicht in „Restösterreich“ und die junge Demokratie. In der Steiermark waren radikal autoritäre Tendenzen und völkisch nationale, antidemokratische, antisozialistische, antisemitische und antislowenische Gesinnungen besonders stark ausgeprägt. Die NSDAP Österreich wurde von einer steirischen Heimwehr-Splittergruppe gegründet.
Das Scheitern der Demokratie zeigte sich in der Ausschaltung des Parlaments durch Engelbert Dollfuß, dem Verbot parteipolitischer Gegner und der Errichtung der „Ständestaat“-Diktatur. Trotz Verbots bekannten sich in der „Stadt der Volkserhebung“ viele Grazer/-innen noch vor dem „Anschluss“ zum Nationalsozialismus. Der Oberbürgermeister, SS-Obersturmführer Julius Kaspar, meldete im März 1940 die „Gauhauptstadt“ als „judenfrei“.
Stadtbilder
Die Stadtgestalt der inneren Bezirke war um 1900 im Wesentlichen vollendet. Die nach dem Ersten Weltkrieg drückende Wohnungsnot musste von der Stadtverwaltung durch die Errichtung peripherer Wohnsiedlungen gelindert werden. Die entscheidende Veränderung der Stadt kam mit der, schon vor der Jahrhundertwende diskutierten, Eingemeindung der umliegenden Ortschaften. Bürgermeister Vinzenz Muchitsch forcierte das Projekt in der Zwischenkriegszeit, finalisiert wurde es jedoch 1938, unter dem Namen „Groß-Graz“ und innerhalb weniger Wochen, vom NS-Regime.
Dieses hatte noch weitere Pläne für die „Stadt der Volkserhebung“: wuchtige, auf den Schloßberg gerichtete Straßenachsen und feierliche Plätze mit monumentalen Verwaltungstempeln. Letztlich blieb die Grazer Stadtgestalt von diesem gigantischen Eingriff verschont. Nicht aber von den Luftangriffen der alliierten Streitkräfte vom Spätwinter 1944 bis Ostern 1945. Fast 50 Prozent aller Gebäude der Stadt wurden beschädigt oder zerstört.
Triestersiedlung
Anders als in Linz spricht in Graz niemand von „Hitlerbauten“. Man sieht es ihnen nicht an, dass die Grundpfeiler dieser Gebäude völlig wahnhafte, gegen (fiktive) Gegner*innen gerichtete Ideen waren, wie etwa die „Reinhaltung germanischen Blutes“ und die Vernichtung des Weltjudentums. Hitlers Hass auf die „minderwertigen“ Slaw*innen, die im neuen „Lebensraum“ des Ostens zu versklaven seien, ist nicht Stein geworden. Die Banalität des Bösen ist praktisch und wohnlich in der Südtiroler-Siedlung, gebaut für jene „Deutschen“, die gegen Mussolini optiert hatten.
Schießplatz Feliferhof
Dieser Handgranaten-Wurfstand am Schießübungsgelände des Feliferhof hat sich bei vielen als stille Ikone für politische Verbrechen ins Gedächtnis geschrieben. Weit über 300 Menschen waren hier wegen „Wehrkraftzersetzung“, politischem Widerstand und anderen Gründen hingerichtet worden. Im Mai 1945 wurde ein Massengrab geöffnet, in dem man 142 Leichen fand. Diese wurden daraufhin am Zentralfriedhof würdig bestattet. Im Rahmen eines jährlich dort stattfindenden Trauerakts wird aller Opfer des nationalsozialistischen Terrors gedacht.