Ein Fronbote (Gerichtsdiener) mit Stab und Schwert nimmt einer Zeugin den Eid ab. Frauen durften damals auch in eigener Sache nicht ohne männliche Begleitung vor Gericht stehen.

Im Zentrum des Bildes ist Stadtrichter Strobel an seiner Amtstracht und dem Richterstab zu erkennen. Er ist Symbolfigur einer selbstbewussten stadtbürgerlichen Rechtsprechung. Neben ihm sitzen zwei Laienrichter (Schöffen).

In seinem bürgerlichen Beruf war Stadtrichter Niclas Strobel Fleischermeister – erkennbar an dem Zunftzeichen. Sein Wohlstand erlaubte es ihm, die befristeten Ämter des Stadtrichters und des Bürgermeisters auszuüben.

Der vor dem Stadtrichter kauernde Hund steht für die biblische Gestalt des König Salomon. Das nach ihm benannte „salomonische Urteil“ bezeichnet ein besonders weises und gerechtes Urteil.

Die streitenden Parteien bzw. ihre Vertreter stehen außerhalb der Schranne, dem durch eine Holzwand abgetrennten, rechtlich geschützten Bereich. Das Schriftstück, womöglich ein Vertrag, könnte auf einen Mitgiftstreit hindeuten.

Gerichtstafel des Stadtrichters Niclas Strobel Alpenländischer Maler, 1478

Die rechtliche Autonomie der Stadt

Das 1478 datierte Tafelbild hat zwei Erzählebenen. Einerseits präsentiert es den Grazer Stadtrichter Niclas Strobel bei seiner Amtsausübung. Es zeigt, wie der Gerichtsdiener eine Zeugin vereidigt und die Schöffen das Urteil diskutieren. Damit ist es eines der ältesten Bilddokumente der städtischen Rechtsautonomie in Europa. Andererseits veranschaulicht die Darstellung das religiöse Weltbild des Mittelalters. Über der weltlichen findet eine himmlische Gerichtsszene statt, denn alle Menschen haben sich letztlich vor Gott zu verantworten.

Öl/Tempera auf Fichtenholz
Rahmen (20. Jh.): 131,4 × 109,2 × 6,7 cm
Graz Museum

Die Schranne

Die Schranne bildet Ort und Begrenzung des weltlichen Gerichtes. Sie definiert sowohl den Schauplatz des Prozesses als auch den Gerichtssprengel. Graz erhielt das fürstliche Privileg der eigenständigen Jurisdiktion im Zuge der Stadterweiterung unter den Babenbergern im frühen 13. Jahrhundert. König Rudolf I. von Habsburg bestätigte Graz 1281 den Freiheitsbrief Kaiser Friedrichs II. Fortan galten das Niederlassungsrecht, die Befreiung der Stadt von der Maut sowie die Hoch- und Blutgerichtsbarkeit für das Stadtgericht.

Stadtrichter Niklas Strobel

Im Bildzentrum thront der Stadtrichter Niklas Strobel (auch: Strobl). Die klare Bildstruktur und hierarchische Anordnung veranschaulichen der Betrachterin und dem Betrachter Macht und Ansehen des städtischen Höchstamts. Stadtrichter Strobel steht in direktem Bezug zu Christus, dem Weltenrichter. Beide fungieren als Vertreter einer absoluten Entscheidungsgewalt, anerkannt von den sie flankierenden Begleitfiguren. Strobel, der selbst Auftraggeber des Bildes war, steht damit stellvertretend für das wachsende städtische Selbstbewusstsein der Zeit. Rechte und Privilegien entsprachen dem Willen Gottes und waren nicht der Gnade des Landesfürsten zu verdanken.

Bürgerliches Selbstbewusstsein

Neben dem Namen Niklas Strobel und dem Datum 1478 verweist die Darstellung auch auf die Zunftzugehörigkeit des Stadtrichters. Strobel gehörte der Zunft der Fleischer an, die sich im 15. Jahrhundert vorwiegend im „Kälbernen Viertel“ zwischen der Mur und der Stadtmauer (im Bereich der heutigen oberen Neutorgasse) ansiedelten. Aufgrund ihrer hohen Bedeutung für die Nahrungsmittelversorgung der Stadt gehörten die Fleischer neben den Bäckern zu den einflussreichsten Zünften in Graz.

Die Ablegung des Eides

Im Vordergrund nimmt der Fronbote (Gerichtsdiener) – gekennzeichnet mit Stab und Schwert – einer Zeugin den Schwur ab. Frauen durften nicht selbstständig, ohne männliche Begleitung, vor Gericht stehen. Das biblische Credo und Leitbild der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung wird hierin sichtbar: Die Frau ist dem Mann untergeordnet, sie hat eine dienende Funktion auszuüben.

Das Himmlische Gericht

Über dem Stadtgericht tagt das Himmlische Gericht. Im Zentrum steht Christus als Weltenrichter („Majestas Domini“), angelehnt an Tympana-Darstellungen mittelalterlicher Kathedralen. Mit Maria und Johannes dem Täufer, den Fürsprecher*innen der Menschheit, bildet Christus eine Dreieckskomposition („Deesis“). Symmetrisch flankieren ihn die 12 Apostel. Engel blasen in die Posaunen und erwecken damit die Toten zum Leben. Im Mittelalter waren Weltgerichtsdarstellungen allgegenwärtige Hinweise auf die Wiederkunft Christi auf Erden: dem Jüngsten Tag, an dem alle Menschen Rechenschaft vor Gott ablegen müssen und zu himmlischer Erlösung oder ewiger Verdammnis verurteilt werden.

Vollstreckung des himmlischen Urteils

Jenseits der Schranne wird an den von Engeln erweckten Toten das Urteil des Himmlischen Gerichts vollzogen. Ihre Nacktheit ist einerseits ein Zeichen der Gleichstellung aller Menschen vor Gott und andererseits Ausdruck menschlicher (vornehmlich weiblicher) Sündhaftigkeit. Die zum ewigen Leben Erlösten bilden eine Gruppe. Die Verdammten werden von Teufelsfiguren in den Höllenschlund gezerrt. Die dramatische, jedoch leicht lesbare Bildsprache kündete der zumeist analphabetischen Bevölkerung die Allgegenwart des Todes und das nahende göttliche Gericht.

Die Weisheit Salomons

Der kauernde Hund im Bildvordergrund scheint auf den ersten Blick lediglich als „Bildauffüller“ zu dienen, doch mittelalterliche Bilder beinhalten eine Vielfalt an symbolischen Aussagen. So steht der Hund ikonographisch für die Weisheit des Königs Salomon, des gerechten Richters im Alten Testament.

Objektgeschichte

Das Stadtrichterbild gehört zu den ältesten und bedeutendsten Objekten des GrazMuseum. Der Maler des 1478 entstandenen Tafelbildes ist unbekannt. Das Objekt ist ein rares Zeugnis städtischer Rechtsprechung im europäischen Spätmittelalter: Es verkörpert einen Bildtypus, von dem weltweit nur vier Exemplare bekannt sind. 2017 wurde das Grazer Stadtrichterbild erstmals mit den anderen Darstellungen im Groeningemuseum in Brügge vereint.

Das Tafelbild stellt besondere Anforderungen an Präsentation und Konservierung. Material und Technik – Tempera auf Fichtenholz – erfordern bestimmte klimatische Bedingungen. Ein maßgefertigter, abgedichteter und an der Vorderseite mit einem UV-Glas versehener Rahmen garantiert ein konstantes Mikroklima und damit den Schutz des Gemäldes im Ausstellungsbetrieb.